Ein Märchen aus kommender Zeit
Ein Wolf ging einmal in die Stadt,
weil er im Wald gefroren hat,
denn es war in der Weihnachtszeit
und draußen hatte es schon geschneit.
Unnötig war sein Versuch, unerkannt zu bleiben,
denn in dem vorfestlichen Trubel und Treiben
achtete niemand auf seine Präsenz im Schatten,
weil alle mit Laufen und Kaufen zu tun hatten.
Er wollte sich wärmen ganz im Stillen
und die Freude am Fest mit den Menschen fühlen,
doch, umwogt von Lärm und künstlichen Lichtern,
sah er kein Lächeln auf ihren Gesichtern.
Es erschienen ihm die Leute
wie eine wild gewordene Meute
und es fragte sich der Wolf sodann:
„Was geht dieser Rummel mich an?
Hier finde ich für mich kein Glück,
am besten, ich kehre zurück.“
Er war schon dabei zu gehen,
da sah er vor sich eine Tanne stehen.
Sie leuchtete im Lichterschein
und er fühlte sich etwas wie daheim
und da er müde war, brauchte es nicht viel,
dass er in einen tiefen Traum verfiel.
Da der Trubel ihn nicht mehr störte,
war es ihm, als ob er eine leise Stimme hörte,
sie kam von oben her heran
aus dem Wipfel der weihnachtlichen Tann':
„Ich habe dich oft gesehen
unter mir in meinem Schatten gehen,
als ich noch draußen mich befand
und grünte dort im Waldesland.“
„Ich erinnere mich nicht an dich im Wald,
doch fühle ich mich nicht mehr so kalt
unter den Menschen in ihrem hastigen Tun
und will gern bei dir hier ruhn.“
„Öffne dabei deines Herzens Ohren,
dann wird in dir mein Wissen geboren
und du kannst mehr Worte lernen, die nicht vergehen,
als in allen Büchern der Menschen stehen.
Mit meinen Wurzeln reiche ich tief in die Vergangenheit
und schöpfe meine Weisheit aus dem Ursprung der Zeit,
ich richte zu meiner Herkunft aus der Höhe den Blick
und wachse aus der Tiefe hinauf zu ihr zurück.“
Da wurde der Wolf plötzlich wieder wach
und dachte über das Gehörte nach,
er schaute her und blickte hin,
doch fand er keinen Sinn darin.
„Das ist nur eine Halluzination“, sagte er sich,
„oder vielleicht meinte die Stimme nicht mich.“
Auch wenn ein kleiner Zweifel nagte,
verschloss er sich dem, was die Tanne sagte.
Was blieb ihm übrig, alt geworden und isoliert,
gemieden von andern und von ihnen irritiert:
„Was sollen heilige Wurzeln und der Weisheit Genuss,
wenn am Ende nichts kommt als der Schluss?
Du bist das beste Beispiel dafür,
als toter Baum stehst du hier vor mir,
abgesägt und fern von deinem Wald
und landest auf dem Müllberg bald.“
Doch wieder sprach es zu ihm leise
auf eine eigenartige Weise:
"Du urteilst nur nach dem, was du siehst,
erkenne jetzt auch das, was dahinter ist.
Ich stehe hier im Lichterkleid,
die Herzen der Menschen öffne ich weit,
draußen im Wald da lebe ich heiter
in meiner Samen Keime weiter.
Das Leben ist ein Vergehen und Werden,
Dauer gibt es nicht auf Erden,
doch geht nichts von allem verloren in der Zeit,
sondern bleibt lebendig im Wandel der Ewigkeit.
Ehre das Heilige in der Höhe
und diene dem Frieden in deiner Nähe,
freue dich an deinem freien Sein,
vertraue der Liebe, die dich mit anderen vereint.
Verharre nicht in deines Verstandes Schranken,
seine Starrheit lässt dich erkranken,
öffne dich dem freien Geist,
der dir den Weg in die Zukunft weist.
Lass dich nicht blenden vom falschen Licht,
hör nicht auf das, was die Lüge spricht,
meide die Mode, die kommt und geht,
folge dem Wort, das wahr in dir ersteht.
Egal, ob es stürmt oder regnet,
gleich, was uns draußen begegnet,
wir Bäume ruhen in unserer Mitte jetzt und hier
und wachsen im Gleichgewicht, für und für.
Wir stammen alle vom Urbaum ab, den die Menschen einst kannten
und Ixdrasil, den Weltenbaum nannten,
wie er ist jeder von uns ein Teil der Achse der Welt,
die Erde und Himmel zusammen hält.
Wer weiss, wie lange es dauern wird auf Erden,
bis auch die Menschen Mittler zwischen oben und unten werden,
und sich Kinder des Hôchsten nennen,
wenn sie das göttliche Bild in sich erkennen.
Die Religionen haben das Göttliche nicht gepachtet,
religiös ist jeder Mensch, der das Heilige achtet,
nicht nur in Kirchen, Tempeln oder Moscheen
kann man den Himmel offen sehen.
Ich leuchte hier für alle, die mich erblicken
will jeden mit meiner Spitze in die Richtung schicken,
in der er sich
wie ein Stern erkennen kann als Ich.
Wer dann sich selbst als heilige Stätte erkennt,
in der das Feuer des lebendigen Geistes brennt,
wer dieses auch in anderen respektiert,
der ist frei und einer, der zur Freiheit führt.
Gehe jetzt zurück in den Wald zu meinen Kindern,
hier bist du zu fremd zum Überwintern,
sie werden dich wärmen unter ihren Zweigen
und können dir noch mehr von dem zeigen,
was die Menschen noch nicht erkennen.
Sie werden dir von IHM die Wahrheit nennen,
in dessen Namen die Leute heute feiern und prassen,
ohne ihn mitten in sich leben zu lassen.